Aufrechnungsverbot wegen unwirksamer Regelungen in der Übergangsvereinbarung vom 10.12.2019?
Das Sozialgericht Nürnberg vertritt unter anderem mit Urteil vom 29.03.2023 (S 2 KR 326/22), dass die Übergangsvereinbarung vom 10.12.2019 in unzulässiger Weise das Aufrechnungsverbot des § 109 Abs. 6 S. 1 SGB V ausgehebelt habe. Hiergegen ist eine Sprungrevision beim Bundessozialgericht unter dem Aktenzeichen B 1 KR 18/23 R anhängig. Nach unserer Einschätzung kann die am Sozialgericht Nürnberg vertretene Rechtsauffassung nicht überzeugen, so dass wir mit großem Interesse der Entscheidung des Bundessozialgerichts entgegensehen. In der bundesweiten Rechtsprechungspraxis konnte sich die am Sozialgericht Nürnberg entwickelte Ansicht bislang nicht durchsetzen. Nur wenige Kammern in Bayern lassen erkennen, ebenfalls von einem Aufrechnungsverbot auszugehen. Außerhalb Bayerns ist es bislang eine Rarität, dass eine sozialgerichtliche Kammer dieser Ansicht folgt.
Regelung des § 109 Abs. 6 SGB V
Der Gesetzgeber hat mit Wirkung zum 1.1.2020 ein Aufrechnungsverbot geregelt, das es den Krankenkassen untersagt, öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche aus der Überzahlung von Krankenhausbehandlungen gegen andere Vergütungsansprüche der Krankenhäuser aufzurechnen. Allerdings beließ es der Gesetzgeber nicht dabei, sondern schuf zwei Ausnahmetatbestände.
Der Wortlaut der Norm lautet wie folgt:
(1) Gegen Forderungen von Krankenhäusern, die aufgrund der Versorgung von ab dem 1. Januar 2020 aufgenommenen Patientinnen und Patienten entstanden sind, können Krankenkassen nicht mit Ansprüchen auf Rückforderung geleisteter Vergütungen aufrechnen. (2) Die Aufrechnung ist abweichend von Satz 1 möglich, wenn die Forderung der Krankenkasse vom Krankenhaus nicht bestritten wird oder rechtskräftig festgestellt wurde. (3) In der Vereinbarung nach § 17c Absatz 2 Satz 1 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes können abweichende Regelungen vorgesehen werden.
§ 109 Abs. 6 SGB V
Nach unserem Rechtsverständnis stellt sich die daraus folgende Rechtslage folgendermaßen dar, wobei wir darauf hinweisen, dass die Rechtslage bislang im Streit steht und die abschließende Entscheidung des Bundessozialgerichts aussteht. Nach unserem Verständnis der Norm stand es den Vertragspartnern frei, auf Grundlage des Satzes 3 die Fortgeltung der Regelungen der PrüfvV (2016) zu vereinbaren.
Wortlaut und Systematik
Der Wortlaut des § 109 Abs. 6 SGB V enthält drei Regelungen: Satz 1 normiert ein Aufrechnungsverbot. Das gesetzliche Aufrechnungsverbot wird jedoch durch die Sätze 2 und 3 durchbrochen. In Satz 2 regelt der Gesetzgeber selbst Ausnahmen, in denen er bereits von Gesetzes wegen die Aufrechnung entgegen Satz 1 ermöglicht sehen will, nämlich bei nicht bestrittenen und bei rechtskräftig festgestellten Forderungen der Krankenkasse. Entscheidend ist hier aber Satz 3 der Regelung: Darin ist eines Ermächtigungsgrundlage enthalten, dass die Spitzenverbände im Rahmen der Vereinbarung zum Prüfverfahren „abweichende Regelungen“ vereinbaren können.
Der Gesetzgeber regelt damit zwar, dass im Ausgangspunkt ein Aufrechnungsverbot gelten soll. Er überlässt es jedoch den Spitzenverbänden, für die Vereinbarung die Möglichkeit zur Aufrechnung selbst zu regeln. Erkennbar setzt der Gesetzgeber dabei in der Ermächtigungsgrundlage keine Grenze. Eine gesetzliche Fallgruppe, in der die Aufrechnung in jedem Fall verboten bleiben soll, regelt der Gesetzgeber gerade nicht.
Es ist systematisch auch nicht erkennbar, dass nur von Satz 2 abweichende Regelungen vereinbart werden dürfen. Der Gesetzgeber ermächtigt allgemein zu „abweichenden Regelungen“. Die Vereinbarung der Aufrechnungsmöglichkeit nach Maßgabe der PrüfvV (2016) entspricht einer solchen „abweichenden Regelung“.
Gesetzesentstehung und Zweck
Ausweislich der Gesetzgebungsdokumente bezweckte der Gesetzgeber die Sicherung der Liquidität der Krankenhäuser. Diesen Zweck erreicht er, indem er im Ausgangspunkt (Satz 1 der Regelung) ein Aufrechnungsverbot festlegt. Mit der Ermächtigungsgrundlage in Satz 3 trägt er jedoch dem Gedanken der Selbstverwaltung Rechnung. Er überlässt es den Spitzenverbänden, andere Regelungen als die gesetzlich getroffenen zu vereinbaren. In der Konsequenz bedeutet das, dass der Krankenhausseite (vertreten durch die Deutsche Krankenhausgesellschaft) ermöglicht wird, auf den gesetzlichen Schutz ganz oder teilweise zu verzichten.
Den Krankenhäusern wurde die Aufrechnungsmöglichkeit daher nicht gegen ihren Willen auferlegt, sondern sie haben vertreten durch ihre Spitzenverband auf den Schutz vor Aufrechnungen verzichtet, soweit Aufrechnungen nach der PrüfvV (2016) möglich waren. Der Schutzzweck der Norm gebietet daher keine restriktive Auslegung der Ermächtigungsgrundlage. Je mehr die Betroffenen (die von der Regelung Geschützten!) selbst darüber mitentscheiden können, auf den Schutz vor Aufrechnungen zu verzichten, umso weniger gebietet es der Zweck der Norm, Aufrechnungsregelungen zu begrenzen. Der Gesetzgeber ging offenkundig davon aus, dass die Spitzenverbände als professionelle Akteure selbst eine rationale, interessengerechte Regelung treffen können. So ist es mit der Übergangsvereinbarung und der späteren PrüfvV (2022) dann auch geschehen.
Im Nachgang der Übergangsvereinbarung aus Dezember 2019 kam es dann zur COVID-19-Pandemie. In diesem Zeitraum war die Liquiditätssicherung der Krankenhäuser ein dauerhaftes Thema, das den Gesetzgeber unentwegt beschäftigte. Dennoch ließ der Gesetzgeber die Regelung des § 109 Abs. 6 SGB V bis heute unverändert. Der Gesetzgeber hat also in Kenntnis der Übergangsvereinbarung während der Hauptphase der Pandemie 2020 und 2021 gerade keinen Anlass gesehen, die Regelung zu verschärfen.
Verfassungsrechtliche Erwägungen
Zudem sehen wir einige verfassungsrechtliche Aspekte betroffen.
Die Auslegung des Sozialgerichts Nürnberg ist vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung bedenklich. Denn es obliegt dem Gesetzgeber selbst, normative Grenzen einer Ermächtigungsgrundlage festzulegen. Dies folgt auch aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sowie aus der Wesentlichkeitstheorie. Die Rechtsauffassung des Sozialgerichts Nürnberg führt dazu, dass gar nicht genau gesagt werden kann, wo die Grenze der durch Vereinbarung getroffenen Aufrechnungsmöglichkeit liegen soll. Dies widerspricht zudem dem Vertrauensschutz. In einem für Krankenkassen und Krankenhäuser alltäglich hochrelevanten Aspekt, nämlich der Abwicklung wechselseitiger Forderungen, müssen alle Beteiligte darauf vertrauen können, dass eine getroffene Regelung Bestand hat, so dass sie ihr Verhalten darauf ausrichten können. Daher wären etwaige Grenzen der Ermächtigungsgrundlage auch wesentlich, d.h. vom Gesetzgeber selbst zu regeln.
Es kann daher nicht richtig sein, dass ein Gericht normative Grenzen einer Ermächtigungsgrundlage zieht, die der Gesetzgeber selbst gar nicht in das Gesetz geschrieben hat. Nach diesseitigem Dafürhalten übersteigt dies die zulässige Auslegung. Welche „abweichende Regelung“ gerade noch möglich sein soll oder schon zu weit geht, kann nicht in freier Würdigung durch Gerichte festgelegt werden. Die Konsequenz wäre eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsauffassungen und eine faktische Unanwendbarkeit der Regelung, weil niemand darauf vertrauen könnte, dass die Aufrechnungsmöglichkeit Bestand hätte.
Wenn der Gesetzgeber keine Grenze der „abweichenden Regelung“ in das Gesetz schreibt, kann die Vereinbarung von „abweichenden Regelungen“ nicht gegen die Ermächtigungsgrundlage verstoßen.
Konsequenz der Annahme einer unwirksamen Aufrechnungsvereinbarung
Geht man davon aus, dass die Aufrechnungsmöglichkeit nach Maßgabe der Übergangsvereinbarung unwirksam ist, hätte dies drastische Folgen für die Krankenkassen, weil die Wirkung des § 69 Abs. 1 S. 3 SGB V i.V.m. § 389 BGB nicht eingetreten wäre. Die Aufrechnung wäre formal unwirksam; sowohl der Erstattungsanspruch als auch die Forderung aus der Gegenforderung der Aufrechnung bestünden noch, wären aber vielfach verjährt. Der wirtschaftliche Schaden wäre immens.
Selbst wenn man nur Ruhendstellungen zum Abwarten auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts beleuchtet, ist hier angesichts der gegenwärtigen Zinsniveaus ein höherer Zinsschaden zu befürchten. Ersichtlich würde die Annahme einer unwirksamen Vereinbarung der Aufrechnungsmöglichkeit die Krankenkassen einseitig benachteiligen, obwohl die Regelung auch durch die Spitzenverband der Krankenhäuser getroffen wurde.
Ergebnis: Kein Aufrechnungsverbot bei wirksamer Vereinbarung auf Grundlage der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage
Nach unserer Rechtsauffassung folgt aus alldem, dass die Aufrechnungsmöglichkeit wirksam auf der Rechtsgrundlage des § 109 Abs. 6 S. 3 SGB V vereinbart wurde. Der Wortlaut der Regelung lässt dies zu. Gesetzliche Grenzen regelt der Gesetzgeber nicht. Hätte er diese Grenzen ziehen wollen, hätte dies ausdrücklich im Gesetz erfolgen müssen und kann nicht in freier Auslegung durch die Gerichte erfolgen. Der gesetzgeberische Zweck der Liquditätssicherung der Krankenhäuser ist im systematischen Zusammenhang zu sehen, wonach der Gesetzgeber es den Vertragspartnern ermöglichte, auf diesen Zweck zu verzichten.
Ob unsere Rechtsauffassung im Ergebnis vom Bundessozialgericht geteilt wird, bleibt abzuwarten. Da die Entscheidung des Sozialgerichts Nürnberg bundesweit jedoch kaum Zuspruch findet, besteht Grund zu vorsichtigem Optimismus, dass das Bundessozialgericht die Entscheidung des Sozialgerichts Nürnberg aufheben wird.
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